Wie ein scheinbar neutrales Format zum idealen Lernobjekt für Medienkritik wird
In vielen Sendungen des öffentlich-rechtlichen Politikradios gehört sie fest zum Morgenritual: die Presseschau. In wenigen Minuten werden ausgewählte Zitate aus Kommentaren und Leitartikeln deutscher – und gelegentlich internationaler – Tageszeitungen verlesen. Was oberflächlich wie ein kondensiertes Meinungsbild erscheint, ist in medienpädagogischer Hinsicht ein komplexes Artefakt mit begrenzter Aussagekraft – und hohem didaktischen Potenzial. Nicht, weil es besonders gelungen wäre, sondern gerade weil es exemplarisch zeigt, wie journalistische Vielfalt verzerrt dargestellt werden kann.
Zwischen Aggregation und Autorisierung – über die Macht scheinbar neutraler Auswahl
Die Presseschau nimmt keine eigene redaktionelle Bewertung vor, sondern präsentiert sich als kuratierte Sammlung journalistischer Meinungen. Dabei bleibt unsichtbar, dass jede Auswahl – auch eine scheinbar neutrale – strukturell selektiv ist. Weder die Herkunft noch die politische Verortung der zitierten Medien wird regelmäßig benannt, noch wird offengelegt, nach welchen Kriterien bestimmte Stimmen berücksichtigt – und andere ausgelassen – werden.
Diese redaktionelle Intransparenz wird durch die Kürze des Formats verstärkt. Die zitierten Passagen sind aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, wirken im Medium Rundfunk zusätzlich autoritativ und erhalten dadurch ein Gewicht, das ihnen im Ursprungstext nicht zukäme. Das Ergebnis ist eine vermeintliche Pluralität, die als repräsentativ erscheint, es aber nicht ist.
Eine sich wandelnde Medienlandschaft – und ihre Folgen
Diese Scheinvielfalt muss im Kontext eines strukturellen Wandels der Medienlandschaft betrachtet werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der deutsche Pressemarkt tiefgreifend verändert:
- Die Konzentration auf große Verlagshäuser und zentrale Redaktionen hat den eigenständigen Meinungsjournalismus in der Fläche erheblich reduziert.
- Agenturjournalismus, PR-getriebene Inhalte und bezahlte Beiträge dominieren zunehmend das redaktionelle Angebot.
- Die Grenze zwischen Bericht und Meinung, zwischen Kommentar und Kampagne, ist zunehmend durchlässig geworden.
- Parallel dazu sind zahlreiche alternative, nichtkommerzielle Stimmen entstanden – Blogs, unabhängige Magazine, partizipative Medienprojekte –, die im etablierten Medienbetrieb jedoch kaum Beachtung finden.
Die Presseschau bildet diese Entwicklungen nicht ab. Sie zitiert fast ausschließlich etablierte, institutionell eingebundene Medien, deren Besitzverhältnisse und redaktionelle Leitlinien selten transparent gemacht werden. Was so entsteht, ist bestenfalls ein Querschnitt etablierter Diskurse – aber kein Spiegel gesellschaftlicher Meinungsvielfalt.
Medienpädagogische Perspektiven
Gerade in der medienpädagogischen Praxis ist es entscheidend, Formate wie die Presseschau nicht unreflektiert als Referenz für Meinungsbildung zu verwenden. Vielmehr sollte sie Anlass für eine Vielzahl kritischer Fragestellungen sein:
- Wer spricht – und wer bleibt ungehört?
- Was wird ausgelassen?
- Welche Sprachformen dominieren?
- Welche Medien fehlen systematisch – und warum?
- Wie verändert sich die Wirkung durch die Übertragung ins Radio?
Diese Fragen eröffnen eine vertiefte Analyse der Machtverhältnisse im Mediensystem. Sie machen sichtbar, wie leicht sich Autorität konstruieren lässt – durch Auswahl, Tonfall, Wiederholung und Kontextverschiebung. Die Presseschau wird so selbst zum Untersuchungsgegenstand, nicht zum didaktischen Vorbild.
Pointierte Zusammenfassung
Die Presseschau als mediales Format suggeriert eine Objektivität, die sie strukturell nicht leisten kann. Ihr selektiver, oft intransparenter Charakter macht sie zu einem fragwürdigen Vermittler gesellschaftlicher Diskurse. Doch gerade diese Fragwürdigkeit ist ihr größter Wert: Kein Format eignet sich besser für die medienkritische Bildung als Beispiel dafür, wie durch redaktionelle Entscheidungen Vielfalt eingeschränkt und mediale Autorität konstruiert wird. Die Presseschau ist damit kein Vorbild – aber ein ideales Fallbeispiel: Ein pädagogisch wertvoller Zugang zu Medienkritik in ihrer alltäglichen Form.
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Andersen Storm, 2025-05-21
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