Ein Dossier über Rollen, Strukturen und Selbstbeobachtung im Kulturbetrieb
(Lesedauer: 5 Minuten)
I. Vorbemerkung aus der Redaktion
„I contain multitudes“ — Bob Dylan, I Contain Multitudes (2020)
– das stille Motto einer Redaktion, die an die Mehrstimmigkeit glaubt, auch wenn sie sie täglich Soli spielen muss.
Wenn eine Redaktion beginnt, sich selbst zu lesen, entsteht kein Leitartikel, sondern eine Art Gruppenspiegelung. Zwischen E-Mail-Verkehr, Textproduktion und Kaffeemaschinenritual tauchen Fragen auf, die niemand bestellt hat: Wer sind wir, wenn wir alle Funktionen gleichzeitig erfüllen? Und wie viel Humor verträgt ein System, das sich selbst kommentiert?
Dieses Dossier ist ein Versuch, aus der Liebe zur Arbeit jene Distanz zu gewinnen, die Nähe erst ermöglicht. HB-S hat mit seinem Bericht „Fünf Jobs, ein Gehalt“ den Anstoß gegeben.
Die Redaktion Mensch und Kultur reagiert – nicht beleidigt, sondern neugierig. Alec Andersen übernimmt den Humor, Andersen Storm die Korrespondenz, und irgendwo dazwischen schreibt jemand mit, der nicht sicher ist, ob er gerade denkt oder dokumentiert.
II. Selbstbeobachtung im Ausnahmezustand
Zu HB-S’ Bericht „Fünf Jobs, ein Gehalt“
(Originaltext auf kleinestagebuch.de)
Helmbert Brandt-Schürer (HB-S), Redaktionspsychologe und der Autor hinter kleinestagebuch.de, hat mit seinem jüngsten Beitrag „Fünf Jobs, ein Gehalt“ eine der genauesten Diagnosen jener paradoxen Kulturökonomie geliefert, in der Einzelne ganze Teams ersetzen. Seine Sprache bleibt klinisch, seine Ironie trocken, sein Befund unangenehm klar: Wo einst Kollektive arbeiteten, agieren heute Einzelkörper in rotierender Mehrfachfunktion.
HB-S beschreibt diese Praxis als „kontrollierte Fragmentierung“ – eine Überlebensform zwischen institutionellem Rückzug und Selbsterhalt. Die darin enthaltene Tragik liegt weniger in der Überforderung als in ihrer Normalisierung. Das Improvisierte wird zum Standard, das Ausnahmehafte zur Routine. Selbstüberforderung verwandelt sich in Organisationskultur.
Auffällig ist, wie konsequent HB-S die Beobachtung von innen heraus betreibt. Seine Fallstudien wirken so präzise, dass man die E-Mail-Signaturen der Betroffenen förmlich vor sich sieht. Die Mischung aus Satire und Protokoll hebt den Text aus dem üblichen Feuilleton heraus – er klingt, als habe jemand versucht, eine Verwaltungsvorschrift poetisch zu deuten.
Für Mensch und Kultur stellt dieser Beitrag eine doppelte Herausforderung dar: Einerseits benennt HB-S ein Phänomen, das im redaktionellen Alltag durchaus beobachtbar ist; andererseits reflektiert er damit indirekt auch jene Strukturen, in denen seine Analyse erscheint. Die Redaktion erkennt sich wieder – allerdings nur teilweise und selbstverständlich in anderer Funktion.
Dass HB-S in seinem Text die Figur des „humorverantwortlichen Volontärs“ erwähnt, hat intern zu leichter Unruhe geführt. Alec Andersen, der diese Position seit Kurzem ausfüllt, sieht darin weniger Kritik als Chance zur Professionalisierung. Seine Stellungnahme („Ich und ich und die anderen in mir“) wird in Kürze veröffentlicht.
„Fünf Jobs, ein Gehalt“ liest sich wie ein nüchternes Gutachten über eine Branche, die gelernt hat, ohne Heilung auszukommen. Es ist zugleich ein kulturpsychologisches Dokument und eine kleine Tragikomödie – eine, die niemanden ausnimmt, auch nicht die Beobachter selbst.
III. Die Redaktion fragt nach
Aus Anlass dieses Textes hat die Redaktion Mensch und Kultur HB-S um eine schriftliche Stellungnahme gebeten. Gern hätte sie ein ausführliches Interview mit Herrn Brandt-Schürer gebracht. Da der Autor aber grundsätzlich keine Interviews gibt, wurde die Korrespondenz per E-Mail geführt.
HB-S antwortete knapp, präzise und – wie erwartet – aus rein dokumentarischem Interesse.
Frage 1:
In Ihrem Vermerk „Fünf Jobs (k)ein Gehalt“ schildern Sie die Zunahme multipler Funktionsübernahmen im Kulturbereich.
Ist dieses Phänomen eher temporäre Anpassung oder Ausdruck einer tieferliegenden Verschiebung?
Antwort:
Die beobachtete Mehrrollenpraxis ist weder rein temporär noch vollständig neu. Allerdings hat sie durch die systematische Projektisierung kultureller Arbeit, die Betonung individueller Sichtbarkeit sowie durch die gleichzeitige Aushöhlung institutioneller Rückhalteffekte eine neue Qualität erreicht. Man könnte von einer Normalisierung des Ausnahmezustands sprechen – aus strukturellem Überlebensreflex heraus. Die Verschiebung liegt nicht im Auftreten, sondern in der Breite der Akzeptanz.
Frage 2:
Sie erwähnen humorverantwortliche Volontäre als mögliche Gegenmaßnahme in der Selbstrezeption der Selbstmultiplizierung.
Welche Rolle kann Humor in einem strukturell prekären System tatsächlich spielen?
Antwort:
Humor ist kein Heilmittel, aber ein Indikator für Restwahrnehmung. Wer sich selbst in Ironie spiegelt, bezeugt damit, dass die eigene Fragmentierung noch nicht als Naturzustand akzeptiert wurde. Humorverantwortliche Volontäre – sofern nicht zur Imagepflege instrumentalisiert – können helfen, Differenz zwischen Rolle und Person zu markieren. Ihre Wirkung liegt nicht im Lachen, sondern in der Möglichkeit, überhaupt wieder ein Außenverhältnis zu den eigenen Zuständen einzunehmen.
Frage 3:
Wenn Sie an die kommenden Jahre denken:
Worin läge für Sie der entscheidende Schritt, damit Kultur und auch Journalismus wieder als gemeinsame Tätigkeiten erfahrbar werden?
Antwort:
Die Wiedererfahrbarkeit von Kultur und Journalismus als gemeinsame Tätigkeiten setzt nicht mehr Geld voraus, sondern mehr geteilte Verantwortung. Solange jede:r eigene Förderlogiken optimiert, sind Kollaboration und Öffentlichkeit schwer herstellbar. Ein erster Schritt wäre die Einführung intermediärer Räume jenseits konkreter Output-Erwartungen. In solchen Räumen könnte wieder gesprochen werden, bevor formuliert werden muss.
IV. Nachsatz mit Dylan
Wie in Dylans Lied über das Vielstimmige lebt auch in dieser Redaktion der Widerspruch weiter.
Jede Figur enthält andere, und keine bleibt eindeutig.
HB-S beobachtet, Storm fragt, Alec kommentiert – und doch verschieben sich die Grenzen ständig.
Der Humor, den Alec hineinträgt, ist dabei kein Nachsatz, sondern eine Methode:
Er hält das Ganze beweglich, wo Analyse zu stillzustehen droht.
Es liegt darin eine kleine, redaktionseigene Wahrheit von Dylans Zeile – dass wir, solange wir lachen, schreiben und antworten,
tatsächlich Multitudes enthalten.
HB-S kommentierte unter seinem Artikel zur Dylan-Referenz. Und weil er das erste Wort hatte im Verfahren (dieser Selbstverschachtelung), bekommt er auch das letzte:
„Die Selbstbeschreibung als Multitude kann sowohl strategischer Schutzmechanismus sein als auch poetische Kapitulation. Die Unterscheidung bleibt situativ.“
Zu HB-S’ Bericht „Fünf Jobs, ein Gehalt“
(Originaltext auf kleinestagebuch.de)
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Erster
Das ist hier nicht Tiktok 😉