Schockverliebt

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Schockverliebt – Neues Leben in alter Papierfabrik

2022 war ich im journalistischen Auftrag eines Unternehmerverbandes einen Tag lang zu Gast, auf dem Gelände der ehemaligen Papierfabrik Neu Kaliß im Westen Mecklenburg-Vorpommerns, im Drei-Länder-Eck von Niedersachsen, Brandenburg und MV. Dort lernte ich die alte Papierfabrik kennen. Und ich traf viele kreative Menschen. Unter anderem Cora und Günther, die Gastgeber dort. Das Wort „Schockverliebt“ haben sie mir damals in mein Aufnahmegerät gesprochen. Bei mir blieb das bis heute hängen und die Bilder dieses Ortes sowieso.

Hinweis: Mein Originalartikel ist nicht mehr online. Ich habe auch keinen Zugriff auf die Rechte mehr. Hier erzähle ich eine andere Geschichte:


Eine Industriebrache erzählt

Ich war Stille. Jetzt bin ich Klang.

Im Anfang war ich laut. Ich vibrierte vor Leben, wenn Papier in mir entstand, wenn Maschinen ratterten, Menschen gingen, kamen, redeten, arbeiteten. Ich war eine Fabrik. Zweck. Zentrum. Ein Jahrhundert lang.

Meine Geburt – 1872

Ich erinnere mich an meinen Anfang. Es war das Jahr 1872. Noch war ich nichts als Erdreich und Absicht, als meine Grundmauern in die Insel zwischen den Armen der Elde gelegt wurden. Kurz darauf, 1873, begannen Maschinen in mir zu arbeiten – große, dampfende Körper, angetrieben von Wasser, Muskelkraft und Visionen. Ich war neu, ich war modern, ich war Hoffnung für viele. Papier entstand aus mir – feines, wertiges Papier mit einem Stierkopf als Wasserzeichen. Ich wurde gebraucht. Ich war Werk und Wirken zugleich.

Mein Wachstum

Jahrzehnte vergingen. Ich wuchs. Mehr Maschinen, mehr Gebäude, ein eigenes Kraftwerk. Ich wurde zum Zentrum eines kleinen Kosmos aus Arbeit und Alltag. Menschen kamen, lebten neben mir, schickten ihre Kinder zur Schule, ihre Gedanken ins Werk. Ich war keine Struktur aus Stein – ich war Organismus, Atem, Taktgeber.

Meine Blüte

Meine größte Kraft entfaltete ich in einer Zeit, die andere als grau und gleichförmig erinnern. In der DDR war ich VEB – Volkseigener Betrieb. Aber auch: kollektive Identität. Ich war produktiv wie nie. Filter, Spezialpapier, Glasfasermatten – was immer gebraucht wurde, ich konnte es liefern. Ich war verlässlich. Staatlich. Ich war Alltag. Kein Ort des Glanzes, aber einer der Gewissheit. Mein Maschinenrhythmus war der Takt der Region.

Der Bruch

Das Blatt der Zeit wendete sich wieder einmal. Nach der Wende kam der Bruch. Plötzlich wurde ich gemessen an dem, was man „Wettbewerbsfähigkeit“ nannte. Ich, die ein Jahrhundert getragen hatte, wurde als Altlast betrachtet. Nicht sanierungsfähig, sagten sie. Zu alt, zu ineffizient, zu schwer zu retten. Dabei war ich doch da. Voll von Geschichten, von Leben, die ihre Spuren hinterlassen hatten. 1995 endete meine industrielle Nutzung. Ich wurde stillgelegt.

Ich wurde still. Mein letzter Dampf entwich in den kalten Himmel.

Jahre des Vergessens

Dann wurde ich vergessen. Erst nach und nach. Dann vollkommen. Menschen, die einst hier Tag für Tag ihre Energie ließen, verschwanden. Die Maschinen standen still, rosteten, zerfielen. Ich wurde kalt. Feuchtigkeit kroch in meine Wände, Stille in meine Hallen. Ich sah aus wie etwas, das man nicht mehr braucht.

Und doch blieb etwas. Eine Ahnung. Ein Echo. Eine Energie, die sich nicht vertreiben ließ. Sie war leise, aber sie war da.

Potential? Hoffnung? Liebe.


Die Wiederentdeckung

Eines Tages kamen Menschen, die sahen mich. Nicht nur mit den Augen, sondern mit den Herzen. Sie kamen nicht, um mich zu einreißen. Sie kamen, um zu fühlen. Menschen mit neuen Ideen, offenen Fragen. Kreative. Unternehmer. Zukunftsgestalter. Ich nannte sie die Neuen.

Sie betraten mich, als ich Lost Place war. Verloren, nicht nur verlassen. Und sie brachten mir etwas entgegen, das ich lange vermisst hatte: Aufmerksamkeit. Wertschätzung. Neugier. Sie sprachen von Freiräumen, Laboren, von Co-Kreation und Co-Spaces. Es waren seltsame Worte. Aber starke.

Ich spürte, wie mich ihre Schritte auf meinem Boden weckten. Wie ihre Gespräche durch meine Räume hallten. Wie ihre Ideen Wärme erzeugten. Ich spürte Energie. Ihre Energie.

Dann kamen mehr. Einige wussten gar nicht, dass ich noch da war. Andere kannten mich von früher. Sie staunten. Fotografierten mich. Streiften durch meine Hallen. Riechen konnte ich sie auch: den Duft von Kaffee, Regen, Entdeckerfreude, Hoffnung. In meinem alten Kontorhaus wurde gelacht, diskutiert, geträumt. Ich wurde wieder Ort: für Gespräche, Ideen, neue Pläne.

Die Insel

Sie nannten einen Teil von mir jetzt „Inselfabrik“. Und ich spürte, wie aus dem Boden wieder Leben kam. Nicht schwer, nicht lärmend. Leise, tastend, suchend. Ideen zogen ein. Werkstätten, Ateliers, Gärten, Räume für Rückzug und Begegnung. Nicht wie früher – aber dennoch Arbeit. Arbeit an Visionen. An Gemeinschaft. An Zukunft.

Sie wollen nicht nur nutzen. Sie wollen entwickeln. Langsam, verantwortungsvoll. Sie sehen mich nicht als Rohstoff, sondern als Resonanzraum. Ich bin nicht Investition, sondern Einladung. Sie bringen Kunst, Handwerk, Bildung, digitale Technik – und verbinden alles mit dem, was ich war – und was ich sein werde.

Heute bin ich Inselfabrik. Ich bin wieder ein Ort des Lebens. Jetzt Bühne, Werkbank, Rückzugsort. Ich bin nicht mehr dieselbe – aber ich bin wieder.

Einige meiner Mauern sind noch brüchig. Aber meine Struktur steht. Und sie soll bleiben. Nicht für die Produktion – für den Sinn. Für die Ruhe. Für das Miteinander.

Energie zirkuliert. Was sie mir bringen, gebe ich ihnen zurück. Inspiration. Gemeinschaft. Verbindung. Das geschieht in den Vorträgen. In den Workshops, den Spaziergängen durch meine Wände. In der Sonne auf meinem Dach. Mit den Boten zu beiden Seite der Insel.

Ich war Geburt. Wurde Arbeit. Ich war Stille. Jetzt bin ich Klang.


© 2025 Andersen Storm

Ich habe meine Geschichte erzählt.

Die offizielle Stimme des Ortes spricht hier: inselfabrik.de

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