Leipziger Begegnungen im kulturellen
Umbruch
Am Sonntag, dem letzten Tag der Leipziger Buchmesse (30.03.), drängen sich Besucher durch zwei parallele Wirklichkeiten: Auf der einen Seite die Hallen voller Bücher, Essays, literarischer Reflexionen über das Menschsein, über Politik, Geschichte, Gegenwart. Auf der anderen Seite, kaum eine Querstraße entfernt, die ComicCon – eine Welt aus Rüstungen, Schwertern, künstlichen Ohren, leuchtenden Pupillen, Stoffgeweben, die Geschichten tragen.
Was dort sichtbar wird, ist mehr als ein Kontrast zwischen Hochkultur und Popästhetik. Es ist eine stille Diagnose der Gegenwart – und vielleicht sogar eine Antwort auf sie. Tausende Menschen erscheinen im Gewand anderer Welten, mit einer Entschlossenheit, die weit über das Spiel hinausreicht. Es geht nicht um bloße Flucht. Es geht um Besitzergreifung. Um das provisorische Anlegen einer neuen Haut, eines alternativen Selbst in einer Zeit, in der das alte Selbst vielfach an den Rändern bröckelt.
Doch mit zunehmendem Nachmittag mischt sich das Publikum. Zwischen Cosplay und Sachbuch, Selfie und Signierstunde, entsteht ein gemeinsamer Raum. Und genau dort zeigt sich ein feiner, psychologisch relevanter Aspekt: Die Maske des Cosplay – das Wegschminken des eigenen Gesichts – dient nicht dem Verschwinden. Im Gegenteil. Sie markiert Sichtbarkeit. Selbstwirksamkeit. Beobachtungsfähigkeit. In einer Welt, die das Gesicht der Einzelnen zunehmend uniformiert – durch Konsum, Arbeitsroutinen, modische Konvergenzen – wird hier ein Moment erzeugt, in dem gesehen werden und sehen können wieder zusammenfallen. Ein Moment der friedlichen Störung, der temporären Utopie: verbunden sein, Mensch unter Menschen, aber auf leicht erhöhter Augenhöhe.
Diese performative Aneignung von Wirklichkeit steht nicht im Widerspruch zur apokalyptischen Rhetorik unserer Zeit – sie reagiert darauf. Sie antwortet mit Gesten, Farben, Stoffen und Blicken. Und sie könnte mehr sein als ein Spiel. Vielleicht ist sie ein Zeichen dafür, dass neue Formen des Menschseins längst erprobt werden – sichtbar, aber noch nicht verstanden.
Kommentar, 290 Wörter
Markkleeberg, 2025-04-04
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